Im Luftgrab
Ein Lesebuch
1988. 146 Seiten. Kartoniert
ISBN 9783250-Luftg
Das hier dem deutschsprachigen Leser vorgelegte Lesebuch will nicht an der Legende weben, sondern von der Legende weg und zum Wort kommen, zu Mandelstams Wort: eine Anthologie von seinen
Texten – Gedichten und Prosa – bildet das Kernstück unseres Bandes. Denn der Tod – der fremde wie der eigene, der vorausgeahnte und vorausgenommene, der akzeptierte und der bekämpfte – war eines der großen Themen Mandelstams. Und über den Tod des Dichters nachzudenken sind wir von Mandelstam selbst legitimiert worden – in einem Essay schreibt er den Satz: »Mir scheint, man dürfe den Tod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Leistungen ausschließen, sondern müsse ihn vielmehr als das letzte, das Schlussglied der Kette betrachten.«
Doch Mandelstams Werk will keinen Todeskult, sondern eine Lebensfeier, und da und dort hat der Dichter durchblicken lassen, dass der Tod nicht das letzte Wort habe. Die Schlusszeile eines Gedichtes von 1935 lautet: »Nur noch sterben – und dann noch: der Sprung auf das Pferd.«
Und dass sein Werk noch immer lebt, belegen in unserem Band vier gewichtige Zeugen: vier Dichter unserer Zeit, die – aus vier verschiedenen Sprachen kommend – in engagierten, persönlichen Essays ihre je eigene Begegnung mit dem Werk Mandelstams zum Ausdruck bringen.
Der amerikanisch-russische Nobelpreisträger Joseph Brodsky hat sich stest zu Mandelstam als zu einem seiner großen Lehrmeister bekannt. Die Texte des italienischen Filmschaffenden und Dichters Pier Paolo Pasolini und des feinhörigen französischsprachigen Lyrikers Philippe Jaccottet erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache.
Ein besonderes Ereignis ist der Abdruck eines bisher unveröffentlichten Textes von Paul Celan, »Die Dichtung Ossip Mandelstams«, der im Umkreis seines großen poetologischen Entwurfs »Der Meridian« (1960) entstanden ist und so manches Rätsel des Celan’schen Denkens und seiner besonders intimen Beziehung zum Werk Ossip Mandelstams lüften könnte. Durch diese Erstveröffentlichung darf unser Band auch zu einer Hommage à Paul Celan werden, der 1959 mit seinen ersten Übertragungen Mandelstam für den deutschsprachigen Raum entdeckt hat.
Alle diese Beiträge bilden ein literarisches Gebäude für Mandelstam, einen Ort, »wo sich atmen ließe« – und wenn schon ein Grab, dann gewiss eines aus Poesie, ein Luftgrab eben.